Yurumí, ein Städtchen im Grenzgebiet Kolumbien-Brasilien am Amazonas. Weite Flächen von grünem Dickicht, es ist feucht und heiss. Der Urwald und dessen Ausbeutung sind die Achse der achtteiligen Netflix-Serie Frontera Verde (zu Deutsch: Grüne Grenze), einer Mischung aus Thriller und Mystery.
Die junge Kriminalagentin Helena Poveda wird aus Bogotá in ihre Heimat Yurumí eingeflogen, um einen Femizid aufzuklären. Fünf Frauenleichen werden im Urwald gefunden, getötet durch Schüsse und Pfeile, alle weisshäutige Missionarinnen der Iglesia del Edén, einer in Yurumí ansässigen Frauensekte – mit einer Ausnahme: die fünfte Leiche ist eine Indigene: Ushë.
An Ushës Leiche finden sich Spuren einer grausamen Tat: ihr wurde das Herz entfernt. Was hat es mit diesen monströsen Verbrechen auf sich? Im Laufe der Ermittlungen gerät Helena in ein dunkles Dickicht menschlicher Abgründe sowie in ihre eigene Vergangenheit. Mittels Rückblenden springt die Handlung immer wieder zurück in der Zeit, um das dichte Netz zu entwirren, in welches die Morde verstrickt sind.

Eine der Hauptpersonen in der Serie: Kriminalagentin Helena aus Kolumbien.
Fluch der Ewigkeit
Rückblende. Bereits in den 1940er Jahren treiben Holzarbeiter im Urwald rund um Yurumí ihr Unwesen und vertreiben Indigene wie die Arupani, zu denen auch Ushë gehört. Sie und Yua, der Stammesführer, sind so eng mit dem Urwald, der Dschungelmutter, verflochten, dass sie als árboles caminantes, wandernde Bäume, gelten. Der Wald ist ihnen Führung, Schutz und Weisheit. Sie kennen kein eigentliches Alter und überdauern mehrere Generationen. Das ewige Leben ist jedoch keineswegs Segen. Yua gilt als Sklave der Ewigkeit. Ausdauernd muss er miterleben, welche unmenschlichen Wege die Menschheit nimmt.
Als die Gewalt im Urwald zunimmt und ein junger Mann der Arupani angeschossen wird, helfen den Arupani die indigenen Ya’arikawa und verarzten den Verwundeten. Yua wird dem Stammesführer der Ya’arikawa vorgestellt: Joseph – ein weisser Europäer.

Yua, Stammesführer der Arupani und Sklave der Ewigkeit.
Angriff aufs Herz
Joseph stellt sich als ein nach Südamerika geflüchteter Nationalsozialist heraus, der in den indigenen Stämmen eine im Dschungel geschaffene Ehrenrasse sieht. Er erkennt das Potenzial von Yuas und Ushës übernatürlichen Fähigkeiten. Beispielsweise können sie auf einer rein geistigen Ebene kommunizieren. Diese Ebene wird visuell gekonnt wiedergegeben: Yua und Ushë begegnen sich als Körper, die aus schimmernden Lichtpunkten bestehen. Die Körperkonturen sind hier weniger scharf umrissen, sind fluide und beweglich. Ein toller visueller Effekt.
Es ist diese feinstoffliche Ebene, die Joseph ausschlachten will. Hinter seiner heuchlerischen Sorge um den Regenwald versteckt sich der skrupellose Hunger, sich Natur und Geist untertan zu machen. Sowohl die Ressourcen der Erde als auch die geistigen, sprich: die Gedanken, will Joseph kontrollieren.
Als Schlüssel zum Urwald erweist sich das Herz. Es ist für die Arupani von essentiellem Wert. Nur durch das Herz ist die Verbindung zum Urwald möglich. Die Arupani sehen mit dem Herzen. Sehen, dass jedes einzelne Leben verbunden ist mit dem Leben als Ganzes. Jospehs Jagd auf die Weisheit des Dschungels, die Ushë und Yua verkörpern, wird ein Angriff aufs Herz sein – wortwörtlich.
Zwei Frauen
Zurück in der Gegenwart. Helena wird schonungslos mit den inneren Wunden ihrer Vergangenheit konfrontiert, die sie äusserlich bereits trägt: behutsam offenbart die Kamera nach und nach Helenas Verbrennungen an Hals, Händen und Rücken. Bei einem tragischen Brand verliert Helena als Kind ihre Mutter Aura.
Helenas Eltern erforschten als Wissenschaftler den Urwald und pflegten eine enge Freundschaft zu Ushë. Als Aura fast eine Fehlgeburt erleidet, rettet Ushë die noch ungeborene Helena, indem sie ihr die Weisheit des Urwalds weitergibt. Mit der Zeit kommen Helena die Erinnerungen an Ushë zurück und sie vermag die Präsenz Ushës, die starke Verbindung zu ihr und zum Urwald immer besser wahrzunehmen.
Die Serie trägt im Titel ihr zentrales Thema: Grenzen. Helenas verbrannte Haut ist nicht nur die eigene verletzte Körpergrenze und Metapher für die eigenen inneren Wunden, sondern Sinnbild für die unzähligen verletzten Grenzen der Erde und des Lebens insgesamt.
Energieraub
Joseph treibt sein Unwesen auch in der Gegenwart. Um wie Ushë und Yua Generationen zu überdauern, braucht er die Herzen derer, die mit dem Urwald verbunden sind. Leben kann Joseph nur, indem er Anderen das Leben nimmt. Gierig jagt er sein Lebenselixier. Nach Ushë werden Yua und Helena zu den Verfolgten.
In einem finalen Showdown treffen Joseph und Helena aufeinander. Visuell wird hier auf gleichsam simple wie grossartige Weise veranschaulicht, was im Kern der blutigen Konflikte im Urwald steht: Energieraub. Joseph versucht Helenas pyhsische sowie geistige Energie zu kapern. Eine massive Grenzüberschreitung. Ist Helena stark genug, sich zu behaupten?

Die mörderischen Ya’arikawa mit ihrem Anführer Joseph.
Frontera Verde fasziniert, verstört, berührt und überrascht bis zuletzt. Die metaphysische Dimension der Serie lädt ein, über das Offensichtliche hinauszudenken und schlägt einen weiten Bogen vom Persönlich-Einzelnen zum grossen Ganzen. Ehrgeizig leuchtet die Serie das dichte Geflecht aus (lokal-)politischen Eigeninteressen und Korruption, Macht und Religion aus. Ein starkes Ensemble von Schauspielerinnen und Schauspielern, allen voran Helenas Darstellerin Juana del Río in ihrer kraftvollen Präsenz, sowie ein geschickter Umgang mit Ton und Bild tragen zum Wert der vielschichtigen Serie bei.
Wo beginnen Grenzen? Frontera Verde legt nahe: Grenzen und Grenzüberschreitungen beginnen stets im Denken, beginnen im Geiste.
Autorin: Stephanie Schmidt
Bildquellen
Titelbild, Ushe und Yua: https://derzweifel.com/2020/12/28/frontera-verde-recensione-serie-netflix/
Bild 2, Helena: https://www.diepresse.com/5702305/green-frontier-diese-serie-ist-ein-gluecksfall, © Juan Pablo Gutiérrez/Netflix
Bild 3, Yua: https://www.imdb.com/title/tt9641192/
Bild 4, Ya’arikawa: https://www.enter.co/otros/la-selva-es-protagonista-de-frontera-verde-segun-sus-directores/
Link zur Serie: https://www.netflix.com/search?q=green%20frontier&jbv=80205594